Der Arbeitskreis Antisemitismusforschung wurde 2020 im Rahmen der Jahrestagung der DGS als Forum des wissenschaftlichen Austauschs über alle Formen des Antisemitismus gegründet und ist an die Sektionen Wissenssoziologie und Politische Soziologie angegliedert. Mit israelbezogenem Antisemitismus stellten die Organisatorinnen Prof. Dr. Karin Stögner, Dr. Claudia Globisch, Dr. Sarah Kleinmann und Dr. Lotta Mayer nun eine der medial präsentesten und virulentesten Formen des gegenwärtigen Antisemitismus in den Mittelpunkt der ersten Jahrestagung. Seine besondere Qualität erhält der israelbezogene Antisemitismus durch seine Wirksamkeit in verschiedenen Kontexten – als integrierende Ideologie verbindet er unterschiedliche politische Lager. Die Tagung fand aufgrund der Corona-Pandemie digital statt und stieß auf großes Interesse: Insgesamt nahmen mehr als 160 Personen daran teil. Die Referentinnen und Referenten beleuchteten das kontroverse Tagungsthema aus interdisziplinärer Perspektive, stellten mögliche Definitionen des Phänomens zur Diskussion und fokussierten in ihren Vorträgen Erscheinungsformen des israelbezogenen Antisemitismus in der „Neuen Rechten“, der politischen und akademischen Linken, im politischen Islam sowie in postkolonialen und genderbezogenen Diskursen.
Der Historiker Dr. Volker Weiß von der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck widmete sich dem Bild von Israel in der „Neuen Rechten“. Seine Analyse ergab, dass sich hinter deren oftmals strategisch eingesetzten Israel-Solidarität bei näherem Hinsehen Infragestellungen des Holocaust und Verschwörungsfantasien verbergen. Mit dem im akademischen und öffentlichen Raum kontrovers diskutierten Thema des „Antisemitismus von links“ befasste sich die Soziologin Dr. Claudia Globisch vom Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) Nürnberg der Universität Erlangen. Sie zeichnete eine Typologie dieses Antisemitismus, der sich häufig als israelbezogen äußert, und stellte deutlich heraus, dass nicht das linke gesellschaftliche Spektrum per se antisemitisch ist, aber immer wieder eindeutige antisemitische Argumentationsfiguren anzutreffen seien.
Das zweite Panel begann mit dem Vortrag des Soziologen und Historikers Prof. Dr. Günther Jikeli von der Indiana University Bloomington. Im Zentrum seiner Ausführungen standen die Diskussionen zu den verschiedenen Definitionen von Antisemitismus: Jikeli betrachtet die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance trotz einzelner Schwächen als unverzichtbares Klassifizierungsinstrument für die Forschungspraxis, während etwa die Jerusalem Declaration on Antisemitism grundlegend zu kritisieren sei, da sie unter anderem das Existenzrecht Israels infrage stelle. Die Soziologin Dr. Ulrike Marz von der Universität Rostock referierte anschließend über das Phänomen des israelbezogenen Antisemitismus im Iran, den sie als eine der Konstitutionsideologien der 1979 gegründeten Islamischen Republik ausmachte. Dabei stellte Marz heraus, dass sich der iranische Antisemitismus zwar auf islamische Quellen stütze, aber in stärkerem Maße von den Folgen der kapitalistischen Moderne beeinflusst sei: „Der Antisemitismus der Islamischen Republik gründet nicht im Islam selbst, auch wenn er von diesem geprägt ist, noch ist er ein reiner Import aus den antisemitismuserfahrenen westlichen Gesellschaften. Ausgangspunkt für die Verbreitung des modernen Antisemitismus ist eine spezifische Form gesellschaftlicher Irrationalität, die unter anderem durch gesellschaftliche Umbrüche und Krisen bedingt ist“, so Marz.
Im dritten Panel befasste sich Dr. Philipp Lenhard von der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Kritik an bestimmten Tendenzen postkolonialer Theorien. Im Mittelpunkt seines Vortrages stand eine Kritik an den Schriften des postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe. Lenhard stellt in dessen Werk nicht nur deutliche Züge eines Opferkonkurrenz-Antisemitismus fest, sondern darüber hinaus eine spezifische religiöse Aufladung in christlich antijudaistischer Tradition. Prof. Dr. Karin Stögner, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Passau, fokussierte in ihrem die Tagung abschließenden Vortrag Verbindungslinien zwischen bestimmten Strömungen eines globalen Feminismus und israelbezogenem Antisemitismus. Sie stellte heraus, dass spezifischen feministischen Strömungen ein Verständnis von Emanzipation zugrunde liegt, welches nicht mit einem in der Tradition von Hegel über Marx bis zur Kritischen Theorie stehenden Emanzipationsbegriff vereinbar ist. Am Beispiel von „Queer BDS“ zeigte sie auf, dass eine Engführung des intersektionalen Feminismus es erschwert, israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen und sogar dazu führen kann, dass ebendiesem eine oppositionelle Kraft gegen „weltweite Eliten“ und Imperialismus sowie gegen die Ausbeutung des „globalen Südens“ bescheinigt wird.